11.10.06

Ungelesenes - David und Alma (3)

Teil 1
Teil 2
Teil 3

Ich weiß nicht, wie lange ich schon auf dem kalten Gehweg liege, als ich langsam die Augen öffne und über mir eine dunkle Gestalt, die sorgenvoll, aber ambitioniert versucht durch Pusten mir wieder Leben einzuhauchen. Ich schätze ihre Bemühungen zwar, versuche sie aber mit den Worten »Genug. Wirklich. Es ist genug« an weiterer Hilfe zu hindern. »Da isser doch schon wieder« verkündet etwas enttäuscht eine männliche Stimme.

Langsam richte ich meinen Oberkörper auf und versuche mich zu erinnern, was eigentlich genau und in welcher Reihenfolge passiert ist. Mein Körper ist ein einziges Avalon der Schmerzen und ich schmecke Blut. Vermutlich habe ich mir beim Sturz auf die Zunge gebissen.

Auf der anderen Straßenseite, sammeln sich vor einem Hamburger-Imbiss Schaulustige. Was nur verständlich ist, da wir drei interessante Unterhaltung versprechen. Mike und Alma blühen angesichts der Menschenmenge förmlich auf: »Du Wichser!« Die Menge johlt. »Schau dir nur an, wie du den armen David zugerichtet hast!« Alma scheint besorgt: »Sag, hat dir dieser Grobian weh getan?« Ihr Mitgefühl scheint Mike nicht zu teilen: »Natascha, du hast drei Stunden, dann bist du im Laden oder ich mache deinen Stecher fertig. Das schwöre ich dir! Mit mir spielt man besser nicht.« Mike scheint sehr ungehalten, zieht aber fluchend ab. Er läuft zum Auto, haut mit den flachen Händen eindrucksvoll auf die Motorhaube, schreit abschließend noch ein »Elende Votze!« herüber und kavaliert durch begleitende Pfiffe und vereinzelte Buhrufe von der gegenüberliegenden Seite, von dannen.

Ich versuche einen klaren Gedanken zu fassen und lege das Gesicht in meine Hände um besser nachdenken zu können, was auf Grund der Schmerzen im Moment gar nicht einfach ist. So fasse ich den Entschluss, zuerst aufzustehen um dann weitere Entscheidungen nach Überprüfung des aktuellen gesundheitlichen und optischen Zustands meines Körpers zu treffen.

Als ich die Hände vom Gesicht nehme, stelle ich fest das sie nass und tiefrot sind!? Mein Gott, ich blute wie ein abgestochenes Schwein!? »Spiegel« sage ich hastig. Alma scheint nicht zu verstehen und schaut mich ratlos an. »Spiegel! Einen Spiegel!« Jetzt schaltet sie und wühlt gehetzt in ihrer Handtasche. Irgendein Zufall will es, dass sie recht schnell fündig wird und angelt aus ihrer Seele einen großen, rosaroten Schminkspiegel in Herzform und präsentiert diesen mit Stolz auf ihren Händen. Den Deckel dieses Rote-Laterne-Assessoirs ziert das Bild eines gelangweilt zum Himmel dreinblickenden Rubens-Engel. Ich schaue Alma wohl etwas konsterniert an, denn sie zuckt mit den Achseln und erklärt: »Also, ich find es schön.« Ich lasse alle Vorbehalte fahren und ergreife mir Almas Herz. Öffne dieses ›Ding‹ und es erklingt ›You're so beautiful‹, vorgetragen von den Chipmunks. Bunte LEDs begleiten lustig blinkend den Rythmus. Mein genervter Blick wendet sich gegen die Besitzerin dieses Kleinods ostasiatischer Massenfertigung. Sie verdreht entschuldigend die Augen engelgleich gen Himmel und zuckt erneut mit den Achseln.

Ohne dem eigentlichen Spiegel eines Blickes zu würdigen, gehe ich kurz in mich und fasse die Situation zusammen: Blutend, mit schmutziger Kleidung und höllischen Schmerzen sitze ich auf einem Gehweg, halte ein Konzentrat aller bekannten St.-Pauli Klischees blinkend in meiner Hand. Vor mir, eine völlig wahnsinnige Frau. Die Chipmunks bringen mir ungefragt ein Ständchen. Vermutlich das Letzte, weil in kaum drei Stunden mich der unkultivierte Mike - dieser ›Grobian‹, auf welche Art auch immer, am liebsten ins Jenseits befördern würde. Und alles nur, weil ich etwas Süßes haben wollte. Das Leben ist ein schlechter Witz.

»Das reicht!« sage ich entschieden und klappe augenblicklich Almas rosarotes St.-Pauli wieder zu, werfe es ihr in den Schoß und reisse mich in die Höhe. Zumindest versuche ich es, bleibe aber auf halber Höhe stecken, weil die Schmerzen im Unterleib einen aufrechten Gang derzeit nicht zu lassen. Ich gehe, nein, ich schleiche Schrittchen für Schrittchen über die Straße, in der Hoffnung unbeschadet drüben, vor dem Fast-Food Restaurant - sofern solche Läden den Titel Restaurant verdienen - anzukommen ohne überfahren zu werden.

Alma rafft sich auf und holt mich, was kaum überrascht, sofort ein und stützt, nach einigem nervigen hin und her Gezerre und Verwünschungen - am Ende kapituliere ich jedoch und muss einsehen, dass ich ohne sie wohl nie das andere Ufer erreichen würde, meine Bemühungen.

Und so stakse ich breitbeinig stöhnend dem Licht entgegen, nur gehalten von einem unkontrollierbaren weiblichen Wesen mit wolkenkratzerhohen Stilettos und einem blinkenden Herz aus billigem Plastik.


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Teil 2
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